Zwischen Pornographie und Philosophie -
Houellebecqs "Elementarteilchen"
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"In seinem Roman Elementarteilchen (OT: Les Particules élémentaire) verfolgt Michel Houellebecq das außerordentlich fragwürdige Ziel eine „auch nur annähernd vollstände Studie der Menschheit“ (108) darzulegen."
In seinem Roman Elementarteilchen (OT: Les Particules élémentaire) verfolgt Michel Houellebecq das außerordentlich fragwürdige Ziel eine „auch nur annähernd vollstände Studie der Menschheit“ (108) darzulegen. Hierfür teilt er die jüngere Geschichte in drei einander ablösenden gesellschaftlichen Vorstellungswelten: Christlicher Humanismus – Materialismus – Positivismus. Eine Kenntnis dieser begrifflichen Konzepte setzt Houellebecq voraus. Hier eine stark vereinfachte Legende:
(1) Christlicher Humanismus: Es gibt Gott und der Mensch (bzw. die Menschenwürde) ist als Gottes Kreation das höchste Gut.
(2) Materialismus: Es gibt nichts außerhalb des Stofflichen. Besitz und Sinnesfreuden sind das höchste Gut.
(3) Positivismus: Es gibt das, was wir wahrnehmen können. Wir entscheiden selbst, was das höchste Gut ist.
Der Humanismus, den Houellebecq interessanterweise in Kontext mit der christlichen Religiosität setzt, sieht er zu Beginn des 20. Jahrhunderts abgelöst vom Materialismus. Der Inhalt des Buches, den man grob als die Nacherzählung der Lebensgeschichten zweier Brüder zusammenfassen kann, widmet sich der Darstellung der Schrecken der materialistischen Lebenswelt und dem mit ihr einhergehenden Individualismus. Dieser Inhalt wird in den Rahmen einer philosophisch-soziologisch-historischen Abhandlung des auktorialen Erzählers gesetzt, der immer wieder aus dem Geschehen herauszoomt, um dieses mit zynischen Kommentaren zu berieseln, und dessen externe Perspektive meilenweit davon entfernt ist, objektiv zu sein. Am Ende des Buches wird offenbart, dass der auktoriale Erzähler einer neuen Spezies Mensch angehört, die im zukünftigen Zeitalter des Positivismus versucht eine historische Analyse der materialistischen Gesellschaft niederzuschreiben. Trotzdem wird man den Eindruck nicht los, dass es sich beim Erzähler eigentlich um Michel Houellebecq selbst handelt, der es sich nehmen lassen kann, Gott zu spielen und sein erdrückendes Urteil über die Gesellschaft zu sprechen.
Für manche macht dies genau den Reiz Houellebecqs Romane aus. Houellebecq lässt es sich weder in seinen Romanen noch in Interviews nehmen, Meinungen auszudrücken, bei denen das Wort ‚zynisch‘ zum Euphemismus wird. ‚Gehässig‘ ist eine bessere Beschreibung und nicht selten hagelte es Vorwürfe des Sexismus und Rassismus auf Houellebecq. Über den Autor als Person zu urteilen ist schnell getan, aber zum Glück kann sich Houellebecq in seinen Romanen hinter einem fiktiven Erzähler verstecken und ermöglicht uns so (vorerst) das Suspendieren eines moralischen Urteils bei der Diskussion seiner literarischen Werke.
Houellebecqs gesellschaftliche Analyse ist keineswegs banal oder unüberlegt. Er begreift das Menschenleben als verzweifelten Kampf gegen den Nihilismus. In vollkommen nachvollziehbarer Weise beschreibt er, wie der Materialismus darin scheitert, diesem grundlegendsten Trieb gerecht zu werden. Seine Figuren, die Brüder Bruno und Michel, charakterisiert er als typische Opfer des Materialismus. Sie gehen an der materialistischen Prämisse zugrunde, dass das Ziel des Lebens die Erlangung von Sinnenfreuden sei. Während der sexsüchtige Bruno diesem Ziel sein Leben lang nachrennt, mit der Konsequenz des Verlustes seiner psychischen Gesundheit, driftet der asexuelle Michel immer weiter von der Realität und seiner eigenen Menschlichkeit in die Depression ab. Aus dem Materialismus leitet Houellebecq folgende Gleichung ab: Wenn die Summe aller Lebensfreuden kleiner ist als die Summe aller Schmerzen, ist der Selbstmord die logische Konsequenz. Das Menschenleben ist nur noch wertvoll unter Einbezug eines Kosten-Nutzen-Kalküls. Hier sieht Houellebecq den Widerspruch zum Humanismus.
Den Materialismus verbindet Houellebecq untrennbar mit dem Individualismus. Die Freiheit des Individuums steigt im 20. Jahrhundert zum obersten Gut auf. Das Problem des libertären Wertemodell sieht Houellebecq im unausweichlichen Egoismus, der aus ihm folgt. Individualismus bedeutet für Houellebecq, dass sich jedes Individuum von den Anderen abgrenzen möchte. Hierdurch entsteht ein erbitterter Konkurrenzkampf zwischen den Individuen, der entweder auf sexueller oder auf gewalttätiger Ebene ausgelebt werden kann. Ganz im Sinne Hobbes versteht Houellebecq das freie Individuum als grundsätzlich zerstörerisch. Daher sieht er von der sexuellen Befreiung der 60er Jahre keinen großen Sprung zur Befriedigung grausamerer Instinkte, wie er in den verstörenden Beschreibungen satanistischer Kulte in der USA zum Ausdruck bringt. Houellebecq schreibt: „In dieser Hinsicht war Charles Manson keineswegs ein monströser Ableger der Hippie Bewegung, sondern deren logische Weiterführung“ (251).
Auf vielen Seiten verliert sich Houellebecq in der minutiösen Zerfleischung der 68er Bewegung. Statt um eine ernstzunehmende Kritik an der Bewegung handelt es sich hier eher um ein Strohmannargument, denn Houellebecq benutzt die Hippie-Kultur undifferenziert als Symbol für den Individualismus, ohne auf andere Aspekte dieser einzugehen. Der Hauptcharakter Bruno schwirrt die Hälfte des Buches auf nudistischen Camping-Plätzen herum und macht sich über Meditationskurse und Tantrapraktiken lustig. Nach einer Weile fragt man sich: Ist das alles was Houellebecq zu bieten hat? Es ist offensichtlich, dass Houellebecq in Elementarteilchen einen Fokus auf das Spannungsfeld zwischen sexueller Befreiung und sexueller Perversion legen wollte. Dies scheint jedoch merkwürdig begrenzt in Hinsicht auf die Rahmenerzählung, die immer wieder versucht, die Gesellschaft als Ganzes zu betrachten. Der Roman zerreißt schließlich zwischen dem Versuch die sexuelle Befreiung der 60er Jahre zu kritisieren und der Intention die materialistische Gesellschaft als Ganzes darzustellen. Keins von beiden gelingt und zurück bleibt so etwas wie philosophische Pornographie, die durch ihre Gewalt zum Denken anregt.
Die Geschichte der Brüder endet damit, dass Michel durch seine Erkenntnisse in der Genforschung die Überwindung des Individualismus ermöglicht. Eine neue Spezies Mensch entsteht, die untersterblich, geschlechtslos und genetisch identisch zueinander ist. Menschliche Beziehungen gewinnen wieder an Wert, dadurch, dass die Realität nur noch in ihrer Intersubjektivität anerkannt wird. Der Positivismus ersetzt also die materialistische Annahme einer vom Menschen unabhängigen Realität. Der Mensch kreiert seinen eigenen genetischen Code und löst sich vollends von der Natur ab. Die Angst vor dem Tod sowie der sexuelle Konkurrenzkampf werden Probleme einer fernen Vergangenheit. Diese neue Welt tunkt Houellebecq in surrealen Kitsch, der bewusst an religiöse Phrasen erinnert:
„Jetzt, da das Licht um unseren Körper greifbar geworden ist,
Jetzt, da wir am Ziel angelangt sind
Und die Welt der Trennung überwunden haben…“ (10, Hervorh. im Original)
Nachdem der Humanismus des Christentums durch den Materialismus abgelöst wurde, begründet er sich neu im Positivismus. Diese höchst reaktionäre These scheint Houellebecq Hoffnung zu geben. Sie mag jedoch auch ironisch zu deuten sein. Ebenso lässt sich die letzte Passage des Buches in Angesicht der schieren Vernichtungsgewalt des Werkes fast nur als Spott lesen:
„Aber über die streng historische Intention hinaus besteht das eigentliche Bestreben dieses Buchs darin, jene leidgeprüfte Spezies, die uns geschaffen hat, zu ehren. Jene schmerzgeladene, nichtswürdige Spezies, die sich kaum vom Affen unterschied und dennoch so viel edle Ziele angestrebt hat. Jene gequälte, widersprüchliche, individualistische, streitsüchtige Spezies mit grenzenlosem Egoismus, die manchmal zu Ausbrüchen unerhörter Gewalt fähig war, aber nie aufgehört hat, an die Güte und an die Liebe zu glauben. […] Dieses Buch ist dem Menschen gewidmet.“ (380).
Houellebecq, Michel. [1998] 2008. Elementarteilchen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt